Rede von Ministerin Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Worte der Ministerin für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung Dr. Sabine Sütterlin-Waack anlässlich der
Einweihung der Gedenktafel für die Opfer der Sylter Wehrmachtsjustiz
am Montag, 24. Februar 2020, um 11 Uhr
Sehr geehrter Herr Häckel,
sehr geehrte Frau von Bremen,
sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben uns hier zusammengefunden, um an Menschen zu erinnern, die in den letzten Monaten der NS-Herrschaft hier auf Sylt ihr Leben verloren. Soldaten, die von der Wehrmachtsjustiz zum Tode verurteilt, an verschiedenen Stätten der Insel hingerichtet wurden.
Das Handeln und Urteilen der Richter in der Wehrmachtsjustiz schreibt auch hier auf Sylt ein ganz besonderes Kapitel im Gefüge der NS-Terrorherrschaft. Weil diese Urteile der Militärgerichtsbarkeit formal als rechtens angesehen wurden in dem damaligen Unrechtstaat.
Die jungen Soldaten wurden wegen Fahnenflucht oder vermeintlicher Wehrkraftzersetzung mit dem Tode bestraft.
Hier auf Sylt, aber auch anderswo in Schleswig-Holstein, etwa in Flensburg oder in der Geltinger Bucht, wurden solche Todesurteile gefällt und ausgeführt. Dies geschah kurz vor und auch noch in den ersten Tagen nach Kriegsende.
Geschätzt mehr als 150 Soldaten kamen im Norden so noch durch ein Erschießungskommando zu Tode. Angeordnet von einer Militärjustiz, die kein Ende kannte.
Die angesichts des totalen physischen und moralischen Zusammenbruchs Deutschlands glaubte, zumindest die Moral durch drakonische Urteile hochhalten zu müssen. Die damals vermeintlich Recht Sprechenden dienten bis zuletzt einem Unrechtsstaat und verschafften diesem – nicht nur aus heutiger Sicht – durch ihr Wirken eine wie auch immer zu verstehende (pseudo) rechtsstaatliche Legitimation.
In den ersten Jahrzehnten nach 1945 tat sich der Großteil der deutschen Nachkriegsgesellschaft auch deshalb schwer mit diesem besonderen Thema der NS-Schreckensherrschaft. Es wurde totgeschwiegen, verdrängt, vergessen. Eine Rehabilitierung der Opfer oder die öffentliche Erinnerung an diese Soldaten schien vielen Deutschen nicht opportun. Dieser Gruppe von Opfern des NS-Regimes etwa einen Gedenkstein zu setzen, lag außerhalb der Vorstellungskraft vieler.
Auch in den Regionen und Ortschaften, in denen diese Ereignisse geschehen waren. Auch unter den dortigen politisch Verantwortlichen. Man wollte seine Ruhe. Bloß kein Aufsehen.
Die gesellschaftlichen Strömungen im westlichen Nachkriegsdeutschland waren verharrend. Und viele derjenigen Richter, die damals für die gnadenlosen Urteile Verantwortung trugen, galten von Rechts wegen als unbescholten und waren angesehen in ihren Berufen oder Ämtern.
Auch in höchsten politischen oder juristischen. Manche Namen kennen wir noch, etwa den von Hans Filbinger. Einst Ministerpräsident in Baden-Württemberg.
Meine Damen und Herren,
die Aufarbeitung der NS-Militär-Gerichtsbarkeit und deren Folgen fällt nicht unmittelbar in den Verantwortungsbereich einer Landesjustizministerin.
Für mich ist es aber dennoch eine Verpflichtung, dieses Thema nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Wenn wir heute die Gedenktafel in Erinnerung an die hier gerichteten Soldaten enthüllen, rehabilitieren wir diese unglücklichen Menschen in gewisser Weise und halten ihr Andenken in Ehren. Und wir nehmen uns darüber hinaus eines speziellen Kapitels im dunklen Teil unserer Landesgeschichte an, dem schon in früheren Jahren die gebührende Aufmerksamkeit hätten zukommen müssen.
Meine Damen und Herren,
der Landesregierung und mir persönlich ist es ein wichtiges Anliegen, das Wissen um die Geschehnisse der NS-Zeit in unserer Region zu bewahren. Auch deren Folgen in den Jahrzehnten unseres Landes danach. Nur so können wir uns als Gesellschaft unserer selbst sicher sein.
Es ist eine heute unbestrittene Tatsache, dass Schleswig-Holstein nach dem Ende des NS-Terrors 1945 eine zweite braune Phase erlebt hatte. Diese bis in die sechziger Jahre hinein währende Zeit hat sich auf die politische Entwicklung unseres Landes und die geistigen Strömungen in unserer Gesellschaft ausgewirkt. In vielen Bereichen. Lange Jahre war die Erinnerung an die damalige Zeit und insbesondere die sich daraus ergebende Wirkungsgeschichte kein relevantes Thema in der politischen Öffentlichkeit.
Am 17. März 1951 wurde das „Gesetz zur Beendigung der Entnazifizierung“ verabschiedet. Die Folge war eine vermehrte Einstellung einstiger NS-Funktionsträger in den Staatsdienst. Auch in die Justiz. Mit entsprechenden Verhaltensmustern in Rechtsverfahren.
Der Flensburger Historiker Gerhard Paul hat in einem, wie ich finde, äußerst lesenswerten Beitrag für die Wochenzeitung „Die ZEIT“ im Juni 2001 in einem historischen Längsschnitt die Tiefenschärfe dieses Einflusses von über die NS-Zeit hinauswirkenden Kontinuitäten auf und in Schleswig-Holstein deutlich gemacht.
In seinem Artikel „Flensburger Kameraden“ zeigt er ansatzweise auf, wie gerade in Schleswig-Holstein – namentlich in der Polizei und der Justiz, aber in sehr spezifischer Weise auch im Bildungsbereich, nämlich in der Lehrerausbildung und im „Geschichtsunterricht“ sich diese Einflussnahme konkret gestaltete.
Heute wissen wir genau um diese problematische Nachkriegsphase.
Es geht aber hier und heute nicht mehr darum, dass die rechtliche, moralische oder politische Zuordnung von Schuld und Verantwortung im Zentrum steht. Nein, es geht um das nüchterne Erfassen und Verstehen von Zusammenhängen, auf die wir – die jetzt in der Verantwortung Stehenden – selbst keinen Einfluss nehmen konnten.
Es geht um unsere Selbstvergewisserung durch die sensible, unbeschönigte Erinnerung an die dunkle NS-Zeit und den souveränen Umgang mit einem nicht unproblematischen Teil der (Nachkriegs)Geschichte unseres Landes. Und das Gedenken an die hier auf Sylt standrechtlich getöteten Soldaten gehört für mich dazu.
Diese Selbstvergewisserung ist aber für mich kein zeitlich begrenzbarer und sich allein auf Schleswig-Holstein beziehender Prozess.
Wir treffen auch heute noch im gesellschaftlichen Alltag auf Relikte aus der NS-Vergangenheit. Auf Überbleibsel und Spuren, die und deren stetige Aktualität für uns nicht sofort mit jener Zeit und der nachfolgenden Übergangsphase in Verbindung gebracht werden.
Ich verweise auf die vor sechs Jahren im Justiz-Ministerium angestoßene Debatte für eine Bundesratsinitiative zur Bereinigung von Vorschriften im Strafrecht von NS-Gedankengut, das den Weg in unsere Demokratie überdauert hat. So ist etwa der § 211 StGB, der das Delikt Mord definiert, eindeutig in seinem Wortlaut von der NS-Diktion geprägt. Ein geradezu klassisches Beispiel für überdauernde Wirkungsgeschichte.
Wir Heutigen müssen uns den sensiblen Blick dafür bewahren. Denn die damalige Zeit von Terror und Krieg wirkt für viele Bürgerinnen und
Bürger heute unvorstellbar fern wirkt. Dies liegt am zeitlichen Abstand. Unsere Gesellschaft wandelt sich. Die Stimmen der Zeitzeugen werden bald ganz verstummen. Und die jüngeren Generationen sind ohne eigenen biographischen Zugang zu diesem Teil unserer Geschichte.
Doch wir sind es den Opfern des NS-Regimes schuldig, die Grausamkeiten und die Folgen dieser Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
- Es geht um Gedenken und Erinnern.
- Es geht um die Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung.
- Es geht aber auch darum, die Mechanismen von Macht und Machtmissbrauch und Verbrechen deutlich und bewusst zu machen.
Deutlich zu machen, um heute zu warnen. Zu warnen,
- vor der Gefahr wachsender rechtsextremistischer Kräfte,
- vor deren Gewalt, Terror und Morden,
- vor deren Relativieren, Umdeuten oder Leugnen dieses Kapitels unserer Geschichte,
- vor der Verherrlichung dieses dunklen Kapitels durch diese Gruppen.
- Ja, unser Gedenken bezieht sich auf die Vergangenheit. Doch wir müssen unsere Lehren daraus ziehen. Die richtigen Lehren.
Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger für die Gefährdung der Humanität und für die Verletzlichkeit unserer staatsbürgerlichen Rechte, Pflichten und Werte sensibilisieren. Wir müssen die Menschen zum couragierten Entgegentreten ermutigen. Denn wir leben in einer Zeit, in der wir für die uns als Gesellschaft zusammenhaltenden Werte einstehen und kämpfen müssen. Es geht um den Schutz von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Auch das machen wir heute mit der Einweihung der Gedenktafel zur Erinnerung an diese Gruppe der Opfer des NS-Unrechtsstaates sichtbar. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Es geht darum, wie Erinnerung weitererzählt wird. Unbeschönigt und unverfälscht. Wahr. Es geht darum, wie unser Land zu sich selbst steht.